Unscharf, verzerrt, inkompatibel

Der steinige Weg zum „fairen Klinikbudget“

Budgetverhandlungen zwischen Kliniken und Krankenkassen. Seit vielen Jahren ein völlig üblicher Vorgang, aber dennoch heutzutage komplizierter denn je. Nicht nur quälen Fachkräftemangel und Inflation das Land. On Top sehen sich die Verhandlungspartner mit einer Richtlinie zur Personalbemessung konfrontiert, die „mit dem restlichen Instrumentarium völlig inkompatibel ist“, sagt Stefan Günther. Der medbo Controlling-Leiter weiß um die zahlreichen Spannungsfelder in Sachen Klinikfinanzierung. In seinem zweiten Praxishandbuch geben er und seine Co-Autor:innen nicht nur Umsetzungstipps für die nächste Budgetverhandlung, sondern erklären Hintergründe und Standpunkte - bewusst aus den Perspektiven beider Verhandlungsseiten. Damit möchten sie vor allem gegenseitiges Verständnis an den Verhandlungstischen fördern, um möglichst vielerorts ein „faires Klinikbudget“ zu ermöglichen.

Menschen gut versorgen und dabei wirtschaftlich handeln – „für Psychiatrien ist das mittlerweile ein komplexer Balanceakt“, sagt Stefan Günther, Leiter des medbo Controllings. Es ist ein sensibles Gleichgewicht dass in jährlichen Budgetverhandlungen mit den Krankenkassen-Vertreter:innen herzustellen ist. „Vor allem die extrem komplexen Regelwerke, die sich hier in den vergangenen Jahren entwickelt haben, machen diese Aufgabe zum enormen Kraftakt. Durchblick zu bewahren ist extrem schwer… auf beiden Seiten“, so der Experte in Sachen Klinikfinanzierung. Nachdem sie 2021 ihr erstes Praxishandbuch zur Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie (PPP-RL) veröffentlicht haben, legen Stefan Günther und Ramon Krüger (Fachbereichsleiter Wirtschaftliche Steuerung Klinikverbund und Verbund HPH Landschaftsverband Rheinland) diesen Sommer nach: „Budgetverhandlungen und Finanzierung von Psych-Einrichtungen“ ist der Titel des neuesten Buches, wofür sie dieses Mal auch Stefan Thewes (Vorstandsvorsitzender und kaufmännischer Direktor der LVR-Klinik Langenfeld) als Mitherausgeber an Bord geholt haben. Genauso wie zehn weitere Fachautor:innen mit unterschiedlichster Fachexpertise.

Mindestens ist nicht gleich Normal: Personalvorgaben unklar, dennoch Sanktionen in Millionenhöhe

Dass Kliniken und Krankenkassen miteinander verhandeln ist nichts Neues. „Doch die Verhandlungsgrundlagen haben sich in den letzten Jahren massiv verändert“, betont Günther. Für Kliniken geht es in Sachen Finanzierung vor allem um Personalkosten. In der medbo machen diese rund 80 Prozent der anfallenden Gesamtkosten aus. Dementsprechend ist seit dem 01.01.2020 die Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie (PPP-RL) ein wichtiger Einflussfaktor auf den Verhandlungsausgang. Welche Berufsgruppe darf wie viel Zeit in die Behandlung eines Patienten mit einer Diagnose wie Depressionen, Schizophrenie oder einer Angststörung investieren? Die PPP-RL gibt die hierfür gültigen Mindestwerte vor. Werden diese unterschritten, drohen den Kliniken ab 2023 massive Strafzahlungen, die wiederum an die Krankenkassen abzuführen sind. „Hier reden wir sehr schnell von Beträgen im sechsstelligen Bereich. Oder mehr.“ Urlaub, Krankheitsausfälle und Fluktuation: Um die Mindestbesetzung dadurch nicht zu unterschreiten, muss regelhaft mehr Personal da sein. Sprich: Normalbesetzung auf den Stationen. So selbstverständlich das auch klingen mag: „Die Richtlinie verrät uns nur die Mindestwerte. Wieviel Personal sozusagen ‚normal‘ ist… das ist aktuell schlichtweg unklar. Eine klare Regelungslücke und eine Stolperfalle in den Verhandlungen.“

Verzerrtes Gestern, problematisches Morgen: Belegung 2021 als Basis für 2023

Das Ziel der neuen Personalrichtlinie: Qualitätssicherung in der modernen psychiatrischen Versorgung. Die Realität: Gleich mehrere Spannungsfelder. Denn die PPP-RL ist nur eine Verhandlungsgrundlage von vielen: „Wir hatten bereits vor der Pandemie gewisse Verzerrungen und Unschärfen zwischen den anzuwendenden Systemen, Corona hat die Effekte teilweise verstärkt und stellt vor allem für beide Seiten einen hohen Unsicherheitsfaktor dar, da niemand weiß, wie sich das Leistungsgeschehen weiter entwickeln wird. Die PPP-RL wiederum fordert unabhängig von der Pandemie und von den restlichen Finanzierungsgrundlagen einen massiven Personalaufbau, der stellenweise aber noch gar nicht finanziert wird – und das obwohl schon ab 2023 Sanktionen drohen.“

Kassensturz: Es ist kompliziert.

Fehlende Verbindlichkeit bei den Vorgaben zur Finanzierung des Klinikpersonals. Orientierungswerte von vorgestern, die den Versorgungsbedarf von morgen abbilden sollen. „Budgetverhandlungen als schwierig zu bezeichnen wäre eine Untertreibung“, lacht Günther. „Und hier haben wir noch nicht mal über die aktuell stark steigende Inflation gesprochen.“ Umso wichtiger ist es, betont der Controller, bestmöglich vorbereitet in die Budgetverhandlungen zu gehen. Und zwar für beide Seiten. Hier setzt auch das Praxishandbuch an. „Ein Budget, dass vor allem eines ist. Fair“, fasst er das Anliegen zusammen, dass seine zahlreichen Co-Autor:innen und er damit verfolgen. „Denn sowohl Kliniken als auch Krankenkassen haben ihre berechtigten Standpunkte und Ziele. In Anbetracht des Richtlinien-Wirrwarrs ist gegenseitiges Verständnis das Maß der Dinge.“

Das Buch teilt den Prozess der Verhandlungen in vier Phasen auf: Vorbereitung der Forderungsunterlagen, Durchführung der Verhandlung, Umsetzung des Ergebnisses und Nachweisführung. „Dabei war es uns ein wichtiges Anliegen, möglichst alle Perspektiven zu betrachten.“ Somit melden sich neben Vertreter:innen von Krankenkassen und Kliniken auch Wirtschaftsprüfer:innen oder Rechtsexpert:innen zu Wort.“ Welche Unterlagen werden wann gebraucht? Was sind Stolpersteine in Verhandlungsgesprächen? Welcher Verhandlungsspielraum ist richtlinienkonform und bildet zugleich die Realität der psychiatrischen Versorgung ab? Und für Günther mit am entschiedensten: Was passiert, wenn Verhandlungen scheitern? „Die Möglichkeit eine Schiedsstelle, eine Art Streitschlichter, zu nutzen gibt es schon lange. Viele haben damit aber kaum bis gar keine Erfahrung und schrecken dementsprechend eher davor zurück.“ Das sollte aber nicht sein, daher schafft das Fachbuch auch hier durch Erfahrungsberichte Transparenz.

„Außerdem wagen wir uns sogar, einen Ausblick zu geben. Mitsamt Ideen, wie man die heutigen Probleme künftig vielleicht besser lösen könnte.“ Eine Verschlankung des Bürokratie-Monsters oder den Einführungszeitplan der Sanktionierungen nochmal überdenken wären erste Maßnahmen, die bereits kurzfristig wirken würden und unbedingt notwendig sind. „Langfristig müssen wir allerdings größer denken“, sagt Günther. Denn Corona und verwirrende Richtlinien sind für ihn nur Symptome von Systemen, die parallel zueinander aufgebaut wurden und heute in der Praxis aufgrund der fehlenden Verbindung viele Probleme verursachen. Von der Aufnahme über die Therapie bis hin zur Nachsorge eine:n gleichbleibende:n Ansprechpartner:in als Betreuer:in haben - Medizin möglichst nahe am eigenen Lebens- und Wohnumfeld im ländlichen Raum wissen – neben stationären auch ambulante oder rehabilitative Behandlungsmöglichkeiten. Nach Einschätzung der Versorger sind das entscheidende Merkmale einer modernen, patientenorientierten Psychiatrie im Jahr 2022. Die Zeiten ändern sich. Genauso entwickeln sich die deutschen Psychiatrien fachlich weiter. Das zugehörige Finanzierungssystem scheint jedoch aus der Zeit gefallen zu sein. „Es muss grundlegend überarbeitet und gemeinsam mit den Praktikern weiterentwickelt werden“, so Stefan Günthers an Politik und Verbände.

Finanzierung im Gesundheitswesen

Nicht erst seit der Corona-Pandemie auch in der Öffentlichkeit ein umstrittenes Thema. Laut offiziellen Zahlen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) steigt die Mitgliederzahl der gesetzlichen Krankenversicherung seit Jahren an – 2021 erreichte dieser Wert mit knapp 58 Millionen bundesweit seinen Höchststand während die Beitragssätze mit 14,6 Prozent unverändert blieben. Und dennoch: Bereits seit 2019 fahren die gesetzlichen Krankenkassen Defizite ein. 2021 belief sich das Minus laut BMG auf 6,74 Milliarden Euro. Inflation, demografischer Wandel und ein unentwegt steigender Versorgungsdruck verursachen Kosten, die durch die Einnahmen der Beitragszahler kaum noch getragen werden können. Psychiatrische Kliniken trifft es besonders hart: Nicht nur haben die Angst vor dem Corona-Virus oder die Auswirkungen der Lockdowns und Isolation psychische Krankheiten zusätzlich gefördert. Im September 2020 wurden die Ausgleichszahlungen der Bundesregierung für psychiatrische Einrichtungen eingestellt. Budgetverhandlungen für Psychiatrien entscheiden somit mehr denn je, ob und wie die Bevölkerung Zugang in die psychiatrische Versorgung haben wird.