Anders sein

Wenn das Gehirn anders verknüpft ist – Leben mit Autismus im Erwachsenenalter

Zeit seines Lebens begleitet ihn das Gefühl, dass er irgendwie anders ist. Georg S. erzählt seine Geschichte über eine späte Diagnose, die rückblickend zwar vieles erklärt, aber sein bisheriges Leben grundlegend verändert.

Der heute 40-jährige Georg S. ist Frührentner und lebt mit seiner Familie im ländlichen Umkreis von Cham. Er wirkt introvertiert und beschreibt sich selbst als Eigenbrötler. Doch was viele nicht wissen, Georg S. ist Autist – genauer: Asperger-Autist.

Zufällige Diagnose

Georg S. arbeitet schon zehn Jahre in seinem Beruf als Programmierer, als er Anfang 2020 einen Burn-out erleidet. Er holt sich Hilfe in der Männersprechstunde des Zentrums für Psychiatrie in Cham. In den Gesprächen mit den Ärzt:innen wird schnell klar, warum es zum Burn-out kam: S. ist einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt, die er nicht filtern kann, denn er leidet unter Asperger, einer speziellen Form von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). „Störungen“ deswegen, denn den „Autismus“ gibt es nicht.

Ein Leben im Ungewissen

S. erzählt von seiner Jugend. Er habe sich immer schon gezwungen, so etwas wie ein normaler Jugendlicher zu sein. Er ging mit seinen Freunden in die Disco, besuchte Volksfeste, machte eine Ausbildung und studierte. Doch hatte er immer schon Schwierigkeiten mit sozialen Situationen und Interaktionen. Er tut sich schwer damit, Emotionen anderer Menschen über deren Mimik, Gestik und Tonalität zu erkennen und zu interpretieren. Nach dem „Versuch-und-Irrtum“-Prinzip bringt Georg S. sich bei, andere Personen einzuschätzen. Er habe sich quasi eine „Strategie-Maske“ zurechtgelegt, erklärt er. Trotzdem merkt er auch heute noch oft, dass er nach wie vor in bestimmten Situationen falsch oder unangemessen auf andere reagiert. „Es müsste schon jemand richtig weinen, damit ich erkenne, dass diese Person traurig ist“, sagt S.

Eigen-Art

Er suchte zwar das Gespräch mit Freunden, wollte sich öffnen und erklären, traf dabei aber größtenteils auf Unverständnis. Rückblickend wundern Georg S. die fehlende Akzeptanz und die Verständnislosigkeit nicht, erzählt er, denn selbst er habe nicht verstanden, was mit ihm los gewesen sei. Irgendwann erreichte er den Punkt, an dem er es leid war, sich zu quälen, nur um sich in der Gesellschaft einzugliedern und anzupassen. Während seines Informatik-Studiums begann er, sich immer mehr zurückzuziehen. Er widmete sich voll und ganz dem Programmieren, was ihm schon immer außergewöhnlich leichtfiel. Doch auch in seinem späteren beruflichen Arbeitsalltag setzte ihm seine damals noch nicht diagnostizierte Krankheit zu. Immer wieder musste er neben privaten auch berufliche Rückschläge einstecken, bis sein Körper und seine Psyche nicht mehr konnten. Eben bis zum Burn-out.

Die zwei Seiten der Diagnose

S. beschreibt das Gefühl nach der Diagnose Asperger als zweiseitig. Zum einen fühlte er eine gewisse Erleichterung, da er sich rückblickend viele Situationen und Verhaltensweisen erklären konnte. Auf der anderen Seite fiel es ihm schwer, die Diagnose zu realisieren. Es versetzt ihm auch heute immer wieder einen Stich, wenn er seinen Behindertenausweis sieht, den er aufgrund seiner durch ASS bedingten Alltagsschwierigkeiten bekommen hat.

Im Laufe der Zeit werden ihm das Ausmaß und die Konsequenzen der Diagnose Asperger-Autismus immer bewusster. Denn er kämpft schon sein Leben lang zusätzlich immer wieder auch mit Depressionen.

Komorbidität Depression

Depressionen sind eine nicht seltene Co-Erkrankung von ASS. Die Betroffenen begreifen mit der Diagnosestellung, dass ASS sie tatsächlich ihr Leben lang begleiten und einschränken wird. Diese Erkenntnis legt sich dunkel über sie. So auch bei Georg S.: „Die Depression ist mein Hauptproblem und meiner Meinung nach auch der Grund für meine Arbeitsunfähigkeit und Frührente. Nach dieser zusätzlichen Diagnose fiel ich einfach in ein tiefes Loch. Bis auf wenige Wochen im Jahr bin ich durchgängig depressiv.“ Aus diesem Grund ist es für S. derzeit vorrangig, sich auf die Therapie seiner Depressionen zu konzentrieren.

Autismus in der Gesellschaft

ASS sind keinesfalls eine unbekannte Symptomatik. Vor allem durch Filme wie „Rainman“ oder Serien wie „Dr. Who“, aber auch durch bekannte Persönlichkeiten wie die Asperger-Autistin Greta Thunberg werden sie in der Gesellschaft thematisiert. Auch Georg S. waren die Krankheit und die Symptome bekannt, hatte sogar kurz schon einmal den Verdacht, dass er selbst betroffen sein könnte. Er macht sich im Internet schlau und kommt davon wieder ab, weil die Berichte dort „extremere“ Symptome beschrieben, als bei ihm der Fall.

Viele Facetten

Wie bei Georg S. kann Asperger-Autismus aber auch weniger auffällig auftreten. „Ich kann gut kompensieren und die Auswirkungen hinauszögern. Aber sie sind da“, beschreibt er. S. hat mit vielen alltäglichen Situationen zu kämpfen. Einkaufen, Arbeitsalltag und generell soziale Interaktionen sind für ihn nur schwer oder gar nicht möglich. „Bei Familiengeburtstagen setze ich mich meist in die hinterste Ecke, sage kein Wort und sitze einfach die Zeit ab“, erzählt er. „Mehr als vier Leute in einem Raum sind einfach sehr problematisch für mich“.

Aus diesem Grund wünscht sich Georg S., dass nicht nur die schweren Verläufe in der Gesellschaft thematisiert werden, sondern auch die milderen. Denn die äußeren Zeichen seien kein Hinweis auf die Schwere des inneren Erlebens und der Konsequenzen für die Betroffenen, so S.

"Dort wird mir geholfen"

Heute ist er dankbar, dass er an die Männersprechstunde weitergeleitet wurde. Bereits vor der Diagnose wurde er kompetent beraten und unterstützt. Nachdem die Ärzt:innen Asperger-Autismus festgestellt hatten, bekam er schnelle und individuell angepasste Therapieangebote. Georg entschied sich für eine Gesprächstherapie, die er in mehreren Sitzungen durchführte.

Aktuell ist S. nicht mehr in regelmäßiger Behandlung, aber er weiß, dass er bei Bedarf immer wieder auf die Männersprechstunde zurückkommen kann. Die Chamer Expert:innen sind auch gut vernetzt und geben viele Tipps zum Beispiel in Sachen Selbsthilfe. In entsprechenden Gruppen können sich Betroffene austauschen und gegenseitig unterstützen. Dort bekam auch Georg S. praktische Unterstützung zum Beispiel bei der Beantragung seines Behindertenausweises oder in Form von Mentoring bei einem ersten Arbeitsversuch nach dem Burn-out.

Autismus-Spektrum-Störungen

Die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) gehören zu den neurologischen Entwicklungsstörungen und bezeichnen Formen von Störungen der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung.

Das Krankheitsbild lässt sich in drei Hauptmerkmale unterteilen:

  • gestörte soziale Interaktion,
  • Beeinträchtigung von Kommunikation und Sprache sowie
  • Auftreten wiederholter stereotypischer Verhaltensweisen und Interessen.

Typische Symptome können kognitive Dysfunktionen aller Art – Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Wahrnehmung, Sprache etwa – sowie gestörte soziale Interaktionen sein. Autistische Menschen können emotionale Signale und soziale Codes meist nur schwer erkennen. Daraus resultieren oft unangemessene Reaktionen.

ASS können in verschiedenen Formen und unterschiedlich starker Ausprägung vorkommen:

  • Der frühkindliche Autismus wird häufig auch als die allgemeine Form bezeichnet. Er wird in aller Regel vor dem dritten Lebensjahr diagnostiziert und weist Einschränkungen in allen drei Hauptmerkmalen auf.
  • Beim atypischen Autismus sind nicht alle drei genannten Hauptbereiche betroffen. Zudem treten hier einschlägige Symptome erst nach dem dritten Lebensjahr auf.
  • Für den Asperger-Autismus, auch hochfunktionaler Autismus genannt, sind Defizite in der wechselseitigen Interaktion sowie Kommunikation typisch. Bei dieser ASS-Form sind die sprachliche und die kognitive Entwicklung nicht beeinträchtigt. Oft weisen Betroffene Spezialinteressen oder sogar eine Hochbegabung auf, die das Krankheitsbild zunächst verdecken, weswegen die Diagnose meist relativ spät gestellt wird.

Kontakt:

medbo Zentrum für Psychiatrie Cham
Männersprechstunde
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