Tempus fugit – oder eben nicht

Was bedeutet Zeit? Mein medbo Tag in der Tigerlilly und in der Gerontopsychiatrie

Tempus fugit – die Zeit flieht. Aber manchmal vergeht sie auch ganz langsam. Wir Menschen nehmen Zeit unterschiedlich wahr. Heute will ich herausfinden, welche Bedeutung Zeit für psychisch kranke Patienten hat. Und zwar für die jüngsten und für die ältesten Patienten am Bezirksklinikum Regensburg.

Meine erste Suche nach der Bedeutung von „Zeit“ führt mich in ein kleines Häuschen an der Regensburger Vitusstraße. Hier ist die Tigerlilly, die Tagesklinik für Kindergarten- und Vorschulkinder der Kinder- und Jugendpsychiatrie, und der Tag beginnt dort um halb acht Uhr morgens. Im Gemeinschaftsraum malen schon zwei Kinder Bilder aus, die sie anschließend in einem Ordner abheften. Natürlich trainiert das Motorik, Konzentration und Ausdauer. Aber vor allem erhalten die Kinder damit einen ruhigen Start in den Tag.

„Jetzt wird nicht geplappert – jetzt wird gefuttert“

Nach und nach trudeln alle Kinder ein. Um 8:45 Uhr findet ein gemeinsames Frühstück statt. Alle Kinder und Betreuerinnen sitzen zusammen an einem großen Tisch und es-sen. Wichtig ist dabei, dass wirklich alle sitzen bleiben und nicht mit einem halben Brötchen durch die Gegend flitzen. Dadurch werden die Kleinen nicht zu sehr durch andere Reize abgelenkt, auch wenn die Betreuerinnen die Kinder immer wieder an das Essen auf dem Teller erinnern müssen. Und sie lernen, dass ein gemeinsames Essen Spaß macht.

Morgenkreis mit Tigerlilly

Jetzt kann der Tag so richtig losgehen. Das Team der Tigerlilly hat alle Hände voll zu tun. Unterstützt wird es dabei von Ergo- und Logotherapeuten, die verschiedene Kinder zu Einzelsitzungen abholen. Der Rest trägt Stühle für den Morgenkreis in die Mitte des Geschmeinschaftsraumes. Dann sucht sich jedes Kind seinen Platz. Der Morgenkreis ist ein wichtiger Bestandteil der Tagesstruktur der Kinder. Jedes hat eine besondere Aufgabe. Zum Beispiel darf heute Matthias* den Gong zu Beginn des Morgenkreises schlagen und Babsi* holt die Plüschtigerdame „Tigerlilly“, damit ihr alle einen guten Morgen wünschen können.  

Spielen und Lernen

Im Morgenkreis wird mit den Kindern besprochen, was sie letzte Woche gelernt haben. Denn auch wenn hier Kinder mit verschiedenen psychischen Krankheitsbildern zusammenkommen, wird der Bildungsauftrag, den es in normalen Kindergärten gibt, nicht vernachlässigt. Abwechselnd verstecken die Kinder verschiedene Tierfiguren. Ein Kind, das die Augen geschlossen hat, muss nun die fehlende Tierfigur erraten.

Auszeit mit Blubber

Natascha* wird während des Morgenkreises sehr unruhig und stürmt fußstampfend aus dem Zimmer. Eine Betreuerin folgt ihr und redet ihr gut zu, doch Natascha ist im Augenblick nicht zu beruhigen. Sie sitzt in einem Rattanstuhl im Fang, hat die Arme verschränkt und blickt wütend in die Luft. Manchmal braucht man einfach eine Auszeit – etwas, das jeder aus dem Alltag kennt. Ein paar Minuten Ruhe und schon sieht die Welt wieder anders aus. Aber wie erklärt man Vorschulkindern „ein paar Minuten“? Dies ist der Moment, in dem Sand- und Blubberuhren zum Einsatz kommen. Sie machen den Zeitraum für die kleine „Auszeit“ sichtbar. Mich faszinieren vor allem die Blubberuhren. Sie sehen aus wie kleine Lavalampen, nur leuchten sie nicht. Die Blubberuhren haben den Effekt, dass die Kinder gleich noch etwas Meditatives zum Ansehen haben.

Zeit ist Struktur

Eine Betreuerin der Tigerlilly macht Hometreatment – ins Deutsche übersetzt heißt das „Behandlung zu-hause“. Die Betreuerin besucht einmal pro Woche verschiedene Familien. Je nach Bedarf werden die Eltern für bestimmte Situationen angeleitet oder es werden Essens- oder Bettgehsituationen gestaltet. Anhand dieser Bausteine können sich die Kinder durch einzelne Situationen und letztendlich durch den ganzen Tag „hangeln. „Zeit“ bedeutet bei kleinen Kindern also vor allem „Struktur“ und „Rituale“.

Struktur ist Ordnung im Kopf

Ähnlich ist es auch auf der beschützenden Station 23b des Zentrums für Altersmedizin. Hier werden Senioren mit einer schweren psychischen Haupterkrankung wie Alzheimer oder Depressionen behandelt. Der Tag ist hier sehr genau getaktet. „Viele unserer Patienten haben eine gestörte Zeitorientierung“, weiß Marco Kraus, stellvertretender Stationsleiter. „Häufig kommt es bei den Senioren zu einer Tag-Nacht-Umkehr. Sie schlafen tagsüber und sind nachts wach. Eine feste Tagesstruktur soll dieser entgegenwirken.“

Zeit für Aktivität

Um 7:15 Uhr beginnt der Tag mit Wecken und Grundpflege, gefolgt vom gemeinsamen Frühstück im großen Aufenthaltsraum. Der Morgenkreis heißt hier „Aktivierungsübung“. Ergotherapeuten basteln und spielen mit den Senioren, bis es um halb zwölf Mittagessen gibt. Bei schönem Wetter geht es dann raus in den Garten. Dort genießen die Patienten die frische Luft oder „garteln“. Jetzt im Sommer ernten sie selbst angepflanztes Obst und Gemüse. Pünktlich zu Kaffee und Kuchen um 14:00 Uhr beginnt die Besuchszeit für die Angehörigen, die mit dem Abendessen um 17:00 Uhr endet. Nach dem Abendessen wer-den die Patienten nochmals grund-pflegerisch versorgt und durch ganz persönliche Rituale wird versucht, den Tag-Nacht-Rhythmus wieder zu normalisieren.

Notfall

Zwischen all diesen zeitlichen Fixpunkten werden immer wieder Vital- und Blutzuckerwerte gemessen. Zusätzlich zu ihrer psychischen Haupterkrankung haben gerontopsychiatrische Patienten oft weitere körperliche Erkrankungen, die eine regelmäßige Kontrolle erfordern.

Ein Notfall durchbricht heute die ritualisierte, zeitliche Struktur. Dass wir immer noch in einem Krankenhaus und nicht in einem Pflegeheim sind, wird klar, als plötzlich eine alte Dame krampft. Routiniert misst ein Krankenpfleger sämtliche Vitalparameter der Patientin, während parallel eine Infusion hergerichtet wird. Die diensthabende Ärztin redet beruhigend auf die Patientin ein. Unruhe und Eile – aber auch das gehört zum stationären Alltag.

Das Leben nach der medbo

Vorgefertigte Strukturen sind auf Station 23b nicht nur für die Patienten notwendig, sondern auch für die Pflege. Die Woche ist gut durchgeplant. Montags nimmt die Übergabe der Wochenendaufnahmen den größten Teil des Tages in Anspruch. In der Kurvenvisite wird am Mittwoch im multiprofessionellen Team besprochen, wie es mit dem Patienten weitergehen soll, dienstags und freitags sind Zimmervisiten. Das Ziel auf Station 23b ist häufig die Weiterleitung in ein Pflegeheim, da die schwer betroffenen Patienten zu Hause meist nicht mehr richtig versorgt werden können. Auch in der Tigerlilly ist die Weiterleitung an passende Einrichtungen ein wichtiger Punkt. Im besten Fall werden die Kinder natürlich wieder in die Herkunfts-Kindergärten eingegliedert oder es wird ihnen nach den Sommerferien der reguläre Schulbesuch ermöglicht.

Zeit haben – Ein Zeichen von Menschlichkeit

So unterschiedlich die beiden Einrichtungen schon wegen der Altersstruktur ihrer Patienten sind, so ähnlich ist die Bedeutung von Zeit und zeitlicher Struktur in der Therapie. Struktur ist notwendig, damit man nicht in seinen eigenen Gedanken „versumpft“. Konkrete Aufgaben oder Rituale helfen den Patienten, morgens aufzustehen und abends ihre Gedanken zu sortieren. Bei einer kurzen Kaffeepause in der Küche sagt Marco Kraus noch: „Am wichtigsten ist der empathische Umgang mit den Patienten. Das macht die Pflege aus: Zeit für Patienten haben.“

* Name von der Redaktion geändert

Hinweis: Dieser Beitrag erschien erstmals im medbo Unternehmensmagazin SYNAPSE im Jahr 2018.