Achterbahn

Leben mit einer bipolaren Störung – oder: Ein Indianer kennt keinen Schmerz!

Ihre Stimmung pendelt zwischen manisch und depressiv und Betroffene können Zeitpunkt, Ausmaß und Dauer der Schwankungen selbst nicht mehr kontrollieren: Ein Problem nicht nur, aber gerade auch für Männer. Thomas L. aus der Nähe von Cham erzählt.

Thomas hat seine eigenen Jahreszeiten. In der Weihnachtszeit zum Jahreswechsel hin, im Mai/Juni und später noch im Frühherbst habe er seine manischen Episoden, erklärt er. Die dauerten ungefähr vier Wochen. Und dann: „In der Mitte der Normalphasen falle ich dann regelmäßig für zwei bis drei Wochen in eine dunkle Zeit, oft genug in eine richtige Depression. Da geht gar nichts mehr.“

Jahrelang fällt das niemandem auf. Der heute Mittzwanziger Thomas gilt in Familie, bei Freunden und in der Schule einfach als introvertierter Mensch. Seine Hobbies entsprechen dem ruhigen, zurückhaltenden Charakter. Er liebt Videospiele, programmiert am Computer, liest viel. „Ich sitze halt gern im ‚stillen Kämmerlein‘. Da merkt dann auch keiner, wie ich drauf bin.“ Und es soll auch keiner merken. „Löse deine Probleme allein und lass keinen hinter die Fassade schauen“, beschreibt er seine männliche Identität, mit der er im ländlichen Bayerischen Wald groß geworden ist. Ein Klischee, das allerdings nicht nur dort herrschen dürfte.

Die "junge" Krankheit

Bipolare Störungen beginnen nicht selten im jugendlichen Alter. Auch bei Thomas L. Als Teenager ahnt er, dass bei ihm psychisch etwas anders ist, kann es aber nicht benennen. Passend zu seiner Vorliebe für die virtuelle Welt fängt er an, selber im Internet zu recherchieren. Dass er depressiv sein könnte, wird ihm relativ früh klar. „Eine Freundin hat mich zur Elternberatung in Cham mitgenommen, wo man meine Vermutung bestätigt hat. Da war ich 16.“ Weitere Schritte unternahm Thomas damals aber nicht. Wie auch!? Selbst ist der Mann!

Und warum auch!? In seinen manischen Phasen, die meist hypoman, also leichter ausfallen, ist er sehr leistungsfähig, sprüht vor Ideen und Plänen. Eigentlich Attribute, die in einer Leistungsgesellschaft gut ankommen. Und tatsächlich: Thomas ist erfolgreich. Er macht nach der Schule eine Ausbildung zum Systemelektroniker, arbeitet mehrere Jahre bei einem großen Unternehmen, führt zuletzt ein kleines Team. „In der Manie bin ich nicht zu bremsen. Aber ich langweile mich schnell. Ich brauche ständig Input und will alles sofort umsetzen, was mir so einfällt“, erklärt Thomas L.

Licht und Schatten

Die Folge: Thomas überfordert sich und andere. „Ich habe mich über jeden noch so kleinen Fehler maßlos geärgert – ein ‚Schwamm-drüber‘ kannte ich nicht. Nicht bei mir und bei anderen schon gar nicht.“ L. wird immer öfter wütend, ist nachtragend. Er kann seine negativen Emotionen nicht mehr abbauen. Sie kumulieren, eskalieren. Thomas kommt einfach nicht mehr zur Ruhe.

Ein paar Wochen später das genaue Gegenteil: tiefe Depression. Anderen Menschen sei es kaum zu vermitteln, was es heiße, völlig antriebslos zu sein, so L. „In der Depression fühle ich absolut nichts“, schildert er. „Das klingt wahrscheinlich echt schräg, aber ich freue mich richtig, wenn ich selbst die Traurigkeit wieder fühle.“

Hilfe suchen und finden

Zunehmend wird Thomas L. klar, dass er professionelle Hilfe braucht. Nicht nur die berufliche Situation droht zu eskalieren: Sein Zustand ist kurz davor aufzufliegen, konstruktive Kommunikation mit seinem Team ist kaum noch möglich. Und seine depressiven Phasen verschärfen sich. „Ich hatte ganz konkrete Suizidgedanken. Jedes Mal. Und ich wusste genau, wie ich es hätte anstellen wollen.“ Thomas L. versucht sich abzulenken, mit noch mehr Videospielen, noch mehr Computer, noch mehr „Dr. Google“. Thomas recherchiert intensiv zu seinem Gesundheitszustand. Er braucht einen Ausweg, findet ihn aber alleine nicht.

Dann – endlich! – trifft er sich mehrere Wochen regelmäßig mit einem Psychotherapeuten. „Ich war auf dem richtigen Weg. Ich spürte aber auch, dass das noch nicht reicht“, erzählt er. Im Internet stößt er auf die medbo Cham, landet nach einer notfallmäßigen Erstvorstellung sofort in der ambulanten Männersprechstunde. Dort beschäftigt man sich intensiv mit den Symptomen und dem Krankheitsverlauf von Thomas L. Die Anamnese wird erhoben, es werden Fragebögen abgearbeitet, Interviews und Leistungstests mit ihm durchgeführt. Dann steht die Diagnose fest: bipolar-affektive Störung. Thomas L. hatte zuvor noch nie davon gehört, erkennt sich aber wieder, als die Chamer Behandler:innen ihn von A bis Z über die Erkrankung aufklären. Eine Riesen-Erleichterung! Weil seine affektiven Schwankungen aber immer stärker werden, empfiehlt das Team der Männersprechstunde eine weiterführende Behandlung.

Dann geht alles schnell: Thomas L. lässt sich für drei Monate beruflich beurlauben und tritt eine neunwöchige teilstationäre Therapie in Cham an. Er kommt an Werktagen vormittags in die Klinik und verlässt diese wieder am späten Nachmittag. Heute ist er medikamentös gut eingestellt, bekommt Präparate für die manischen und die depressiven Phasen. Übrigens auch für eine weitere Störung, die in Cham diagnostiziert wurde. Denn Thomas leidet obendrein unter einer spezifischen Angststörung, einer Agoraphobie, die ihn offene Plätze, große Räume sowie Menschenansammlungen meiden lässt.

Sich selbst erkennen

Das therapeutische Programm hilft ihm, seine alten ‚männlichen‘ Verhaltensmuster zu durchbrechen, sich emotional zu öffnen und anderen mitzuteilen. Zuerst den Ärzt:innen und Therapeut:innen, dann auch seinen Mitpatienten. Nicht zuletzt seinen Eltern. „Sie haben gut reagiert. Überhaupt ist in meiner Familie und Verwandtschaft das Thema ‚mentale Gesundheit‘ jetzt richtig angekommen. Einigen geht gerade selbst ein Licht auf …“, freut sich Thomas. Denn auch in Sachen seelischer Gesundheit, so L., gäbe es kein ‚normal‘, nur ein ‚individuell‘. Das solle am besten schon in der Schule vermittelt werden, findet er. „Dann finden Betroffene schneller Hilfe und werden nicht gleich als Sonderlinge abgestempelt.“

Der junge Chamer hat sich nun nach der Therapie für eine "Auszeit von allem" entschieden. Er hat dazu seinen Job gekündigt und nutzt die kommenden Monate, um in Ruhe über seine Zukunft nachzudenken. „Ich habe schon konkrete Ideen für ein berufliches Umfeld, in dem ich gut klarkommen kann. Aber im Moment bin ich am besten Platz meines ganzen bisherigen Lebens: Ich weiß, was los ist mit mir, ich weiß, was ich tun kann, und ich weiß, an wen ich mich wenden werde, wenn ich Hilfe brauche.“

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer: Alles Gute, Thomas L.

Die bipolar-affektive Störung (BAS)

Die BAS ist eine häufige Störung: Integriert man auch leichtere Ausprägungen, so gelten etwa drei bis vier Prozent der Bevölkerung in Deutschland als BAS-betroffen. Die Störung gehört zu den zehn häufigsten chronischen Erkrankungen weltweit. Zwischen einem Viertel und der Hälfte der Betroffenen unternehmen einen Suizidversuch, die Suizidrate ist über 20mal höher als in der gesunden Bevölkerung.

Eine BAS-Episode beginnt meist mit einer manischen Phase, gefolgt von einer Depression. Bei schweren Krankheitsausprägungen dauern die depressiven Phasen – trotz Therapie – meist deutlich länger als die Manien. In ihrem Aufschwung kann die manische Phase bisweilen den Stand einer Hypomanie erreichen, das heißt sich als leichtere Form der Manie darstellen, wo Betroffene oft außerordentlich leistungsfähig oder kreativ erscheinen. Zwischen den bipolaren Episoden weisen die Betroffenen wieder Phasen mit normal schwankender Stimmung auf. Auch Mischformen mit gleichzeitig auftretenden, sich überlagernden oder sehr schnell wechselnden bipolaren Stimmungslagen sind bekannt. Zudem kann von Episode zu Episode die Amplitude der jeweiligen Stimmung unterschiedlich ausfallen. Dies macht die Diagnose einer BAS oft schwierig, denn die Grenze zwischen „normal“, „hypo“ und „hyper“ ist schwer zu ziehen. Oft dauert es lange, bis die Diagnose gestellt ist.

Die Störung entwickelt sich schleichend und zeigt sich meist erstmals im jugendlichen oder jungen Erwachsenenalter, das heißt in einer Lebensphase, in der viele Entwicklungsweichen gestellt werden. Die sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen können entsprechend ernst sein.