Krisensituationen meistern

Immer mal wieder hört man davon: agitierte Patient:innen, die Ärzt:innen und Pfleger:innen beschimpfen und manchmal sogar übergriffig werden. Doch was steckt hinter der Schlagzeile und was bedeutet das für den Alltag der Berufe am Patientenbett? Der unerschrockene Deeskalations-Selbstversuch.

Emotionale Regulation

Die bekannteren Formen solcher Regulationsstörungen kommen etwa bei Demenzpatient:innen vor, von Unruhezuständen über leichte Reizbarkeit bis hin zu richtigem Furor. Dasselbe gilt für intoxikierte Menschen nach Substanzmissbrauch. Aber auch Patient:innen mit einem spezifischen Schädel­-Hirn-­Trauma können auf diese Weise betroffen sein. Nicht zu vergessen Patient:innen, die nach einer Narkose ein Delir entwickeln. Betonung auf „kann“! Aber was tut man als Profi am Patientenbett – oder wie ich als Laie – wenn es tatsächlich brenzlig wird? Weglaufen? Um Hilfe rufen? Kung Fu?

Sich fit machen

Es gibt viele Klischees, wie Krankenhäuser mit „entgleisenden“ Patient:innen verfahren. Sie machen den Menschen Angst – gerade vor der Psychiatrie – und halten manche vielleicht sogar davon ab, sich Hilfe zu holen. Ich will es genau wissen und besuche einen speziellen Kurs am medbo Institut für Bildung und Personalentwicklung: Professionelles Deeskalationsmanagement, ein umfassendes Konzept zum Umgang mit Gewalt und Aggression in Gesundheitsinstitutionen. Dieser Kurs ist (übrigens) Pflicht für alle Mitarbeiter:innen der medbo mit Patientenkontakt.

Die Variante heute vermittelt den Deeskalationsansatz für Kolleg:innen in der Altersmedizin, die tatsächlich meist mit schwer an Demenz erkrankten Menschen zu tun haben. Zwei Tage lang tauche in das Thema ein.

Tag 1: Wie Stress entsteht

Ich bin nervös. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt die nächsten zwei Tage. Im Stuhlkreis sitzen lauter junge Pflegeprofis. Alle fit wie ein Turnschuh. Ich denke an meinen Ischias und frage mich, ob wir gleich mit Karate anfangen. Weit gefehlt – schon zu Beginn falle ich auf mein eigenes Klischee herein. Zuerst kommt die Theorie! Kursleiter Manfred Spindler erklärt uns, wie Situationen überhaupt eskalieren können: „Da gehören auf jeden Fall Zwei dazu: Situation und Krankheit!“ Er erklärt uns, wie Stress entsteht und funktioniert. Es geht um die Stress-Alarmachse, die zu den möglichen Reaktionen Flucht, Kampf oder Erstarrung (Freezing) führt. Bei Patient:innen in der Altersmedizin kann Stress im Übermaß zu unkontrolliertem Verhalten, verzerrter Wahrnehmung, Panik führen. „Und der stationäre Aufenthalt bedeutet für die Patient:innen Stress – alles, was außerhalb ihrer gewohnten Umgebung stattfindet, ist für sie pure Überforderung“, sagt Spindler.

Empathie

Da sind wir eigentlich schon bei Punkt 2 im Deeskalationsmanagement: bei unseren eigenen Gefühlen und Verhaltensweisen. Als Profi am Patientenbett – aber ich wage zu sagen: nicht nur da! – muss uns klar sein, dass auch wir Menschen sind, die intuitiv auf Situationen reagieren. Und jeder kennt das: Hängt man mit den eigenen Emotionen drin, dann wird das nix. „Also“, so Manfred Spindler, „einen Schritt zurücktreten und sich klarmachen: Der Mensch, der hier gerade schreit oder tobt, hat ein Problem. Und das müssen wir identifizieren und dann darauf eingehen.“ Kenntnis und tieferes Verständnis der Ursachen für die Verhaltensweise der Patient:innen sind das A und O. Manfred Spindler: „Fragt den Patienten, die Patientin, was sie plagt – und reagiert angemessen und empathisch.“ Also kein Kung Fu.

Verbale Deeskalation als Mittel der Wahl

Wir lernen reden. Aber nicht irgendwie. Wir lernen wertschätzendes, verständnisvolles Kommunizieren. Wir lernen eine Beziehung zur Patient:in aufzubauen. Wir gehen auf Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle ein, machen Angebote, helfen Lösungen finden. „Und wo es gerade keine konkrete Lösung gibt: Leitet die Bedürfnisse um! Bietet eine Ablenkung an – und sei es eine Tasse Tee, ein Hinweis auf das schöne Wetter oder eine Einladung zum Kartenspielen“, erklärt uns der Kursleiter. „Die verbale Deeskalation ist hocheffektiv“, bestärkt er nochmal. Und dann wird es spannend.

Paarlauf

Jetzt wird trainiert. Paarweise spielen wir eine beliebige eskalierende Situation nach. Ich mime eine Patientin, und meine Spielpartnerin muss rausfinden, was mit mir los ist und verbal deeskalieren. Ich mache es ihr megaschwer … denn ich habe eine massive Angstpsychose. Ich schreie, heule, rede wirr, Augen weit aufgerissen, kauere mich hinter einen Vorhang, habe Panik und kann mich gar nicht recht beruhigen. Das ganze Hörsaalgebäude wackelt bei meinem Gebrüll. Meiner Spielpartnerin treten Schweißperlen auf die Stirn. Aber sie bleibt ruhig, hält Blickkontakt, fragt immer wieder nach, was mich ängstigt. Natürlich reagiere ich irgendwann auf ihre Angebote und lasse mich beruhigen (mit einem Schokoladenkeks). Alle atmen auf, als wieder Stille einkehrt – und dann müssen sie unser Spiel analysieren.

Tag 2: Körperlichkeit

An Tag 2 wird es körperlich. „Nochmal: Verbale Deeskalation entschärft die meisten Situationen“, sagt Manfred Spindler. Aber manche halt nicht. Jetzt geht es um Griffe und Techniken, wie wir gängige Festhalte- und Angriffsarten allein und in der Gruppe abwehren. „Am wichtigsten ist da das Überraschungsmoment“, meint er. Die speziellen Abwehrtechniken haben die Verletzungsfreiheit der Patient:innen bei maximalem Schutz des Personals zum Ziel. Es geht hier darum, dass die Mitarbeiter:in allein, indem sie sich diese körperlichen Techniken aneignet, selber angstfreier und souveräner mit eskalierenden Situationen umgeht. Und dann fangen wir an zu üben … In Zweierteams und in der Gruppe. Keine Frage: Das fordert mich – den verweichlichten Schreiberling – sehr. Aber die jungen Kolleg:innen sind großartig: Als ich die Patientin „außer Rand und Band“ spiele, ist immer jemand da, der mit mir spricht, mich beruhigt, meinen Kopf in den Händen hält, während die anderen versuchen, mich körperlich zu bändigen. Jetzt bin ich nun mal nicht wirklich Patientin – aber ich erlebe die Wirkung professionellen Deeskalationsmanagements am eigenen Leib. Und ich habe keine Angst. Alles ist gut.

Der Aufenthalt im Krankenhaus bedeutet für viele Patient:innen einen emotionalen Ausnahmezustand. Manche werden ungeduldig, nervös, haben Angst. Bei anderen sind Ausraster hingegen nicht einfach durch die Ausnahmesituation veranlasst, sondern können Teil einer Erkrankung sein. Durch die spezifische – psychische oder somatische! – Krankheit können Gehirnareale oder Stoffwechselvorgänge betroffen sein, die für die emotionale Regulation zuständig sind. Das heißt auch: „Vernünftig“ Reden hilft wenig. Denn es geht nicht um Vernunft.

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