Borderline: Auf der Grenze

Expertinnen geben Auskunft

Borderline bedeutet übersetzt „An/auf der Grenze“ – das deutet darauf hin, dass die Erkrankung nicht einfach abzugrenzen, nicht einfach zu identifizieren ist. Die Funktionsoberärztinnen Dr. Stefanie Freund und Dr. Sarah Wächter von der Psychiatrischen Tagesklinik der medbo Regensburg erklären das Störungsbild.

Dr. Freund, Dr. Wächter: Wie äußert sich eine Borderline-Persönlichkeitsstörung? Wie ist sie definiert?

F.: Der Begriff stammt noch aus der Zeit, als man davon ausging, das Borderline-Syndrom sei an der Grenze zwischen Neurose und Psychose anzusiedeln. Inzwischen wird die Borderline-Störung den Persönlichkeitsstörungen zugeordnet und im ICD 10 (International Classification of Diseases an Related Health Problems) als emotional instabile Persönlichkeitsstörung kategorisiert. Hier wird nochmal zwischen zwei Untergruppen unterschieden: der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung vom impulsiven und vom Borderline-Typus.

W.: Oft ist es recht schwierig, die Krankheit zu diagnostizieren, gerade weil viele Betroffene unter weiteren – sprich: komorbiden – psychischen Störungen leiden. Je nach Studie sind die Daten etwas unterschiedlich. Aber etwa 80 % der Patient:innen leiden im Laufe ihres Lebens zusätzlich an affektiven und an Angststörungen, 70 % an Essstörungen, 60 % an einer Abhängigkeit von Substanzen. Ebenfalls 60 % leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung und sogar 80 % der Lebenszeit-Komorbiditäten der Borderline-Störung sind weitere Persönlichkeitsstörungen.

Wie diagnostiziert man eine Borderline-Persönlichkeitsstörung?

F.: Zunächst durch eine ausführliche Anamnese und Erhebung eines psychopathologischen Befundes. Der anamnestische Fokus liegt hierbei unter anderem auf dem Herausarbeiten bindungstraumatisierender Erfahrungen und der Analyse sich wiederholender dysfunktionaler Beziehungsmuster. Auf der Symptomebene erfolgt eine genaue Betrachtung vorliegender Schwierigkeiten im Bereich der Emotionsregulation und daraus resultierender dysfunktionaler Bewältigungsstrategien, beispielsweise “Ritzen“, Alkohol- oder Drogenkonsum, pathologisches Spielen. Wir untersuchen den Patienten auch auf typische Trauma-Symptome. Zur Ergänzung der klinischen Beobachtung und Einordnung ziehen wir standardisierte diagnostische Interviews und Selbstbeurteilungsbögen hinzu.

Borderline: ein schwer abgrenzbares Thema …

W.: Ja, denn auch die differentialdiagnostische Abgrenzung zur Psychose, zur komplexen Traumafolgestörung und zur histrionischen Persönlichkeitsstörung (Anmerkung der Redaktion: „histrionisch“ meint „theatralisch, übertrieben“) ist schwierig und nicht immer eindeutig möglich. Dazu muss man sich erst die Gemeinsamkeiten anschauen. Eine Borderline-Erkrankung kann fast alle Symptome aus dem Spektrum manischer, hypomaner oder depressiver Phasen mit sich bringen. Daraus folgt eine gewisse Unsicherheit, ob nun eine bipolar affektive Störung oder eine Borderline-Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren ist.

F.: Ein entscheidender Unterschied liegt darin, dass bei affektiven Erkrankungen, also einer „reinen Depression“ oder einer manisch-depressiven Erkrankung, die Stimmung über eine längere Zeit (mindestens zwei Wochen) zu einem Pol hin verschoben ist. Die Stimmungslage von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung ist deutlich schnelleren Schwankungen unterworfen. Während sich eine manische oder depressive Phase auch häufig über einen gewissen Zeitraum “ankündigt” und mit Vorboten einhergeht, reicht bei Betroffenen einer Borderline-Erkrankung oft ein von außen betrachtet unscheinbarer Trigger, um Zustände maximal aversiven emotionalen Erlebens, also “Hochanspannung”, hervorzurufen.

Der Leidensdruck soll bei Borderline-Patient:innen sehr, sehr hoch sein. Was passiert da in der Psyche, im Körper dieser Menschen? Wie kann man sich das vorstellen?

F.: Der Leidensdruck der Betroffenen ist in der Regel tatsächlich sehr hoch. Sie leiden unter einem Gefühl der chronischen Leere. Suizidgedanken und Selbstverletzung sind häufig und stellen nur einen verzweifelten Lösungsversuch dar, mit den unerträglich erscheinenden Gefühlen umzugehen beziehungsweise diese zu “betäuben”. Die aversiven Gefühle schießen nach Empfinden der Patient:innen häufig "aus dem Nichts” hoch. Das Ausmaß der Gefühle ist extrem und sie kehren nur langsam zur Ausgangsverfassung zurück. Bildlich könnte man sich dies so vorstellen, dass sie in einem „Gefühls-Ferrari“ sitzen, den sie aber nicht steuern können.

Borderline in Zahlen

Die Lebenszeitprävalenz der Borderline-Störung liegt bei etwa drei Prozent. Das heißt, bei drei Prozent aller Menschen bildet sich irgendwann im Leben eine Borderline-Persönlichkeitsstörung aus.

Bezüglich der Geschlechterverteilung finden sich in der Literatur unterschiedliche Zahlen, die von einem Verhältnis 1:1 bis zu einem Verhältnis von 2:1 „zugunsten“ der weiblichen Bevölkerung reichen. Gesichert ist die Tatsache, dass sich deutlich mehr Frauen als Männer mit einer Borderline-Störung in therapeutischer Behandlung befinden.

Im klinisch psychiatrischen Alltag spielt die Borderline-Persönlichkeitsstörung eine große Rolle. So sind etwa 15-20 % aller stationär psychiatrisch behandelten Patient:innen betroffen. Die Suizidrate von Borderline-Patient:innen ist circa 50mal höher als in der Allgemeinbevölkerung. Bis zu zehn Prozent der Borderline-Patient:innen sterben durch Suizid.

Der Leidensdruck soll bei Menschen mit Borderline sehr, sehr hoch sein. Was passiert da in der Psyche, im Körper der Patient:innen? Wie kann man sich das vorstellen?

F.: Der Leidensdruck der Betroffenen ist in der Regel tatsächlich sehr hoch. Sie leiden unter einem Gefühl der chronischen Leere. Suizidgedanken und Selbstverletzung sind häufig und stellen nur einen verzweifelten Lösungsversuch dar, mit den unerträglich erscheinenden Gefühlen umzugehen beziehungsweise diese zu “betäuben”. Die aversiven Gefühle schießen nach Empfinden der Patient:innen häufig "aus dem Nichts” hoch. Das Ausmaß der Gefühle ist extrem und sie kehren nur langsam zur Ausgangsverfassung zurück. Bildlich könnte man sich dies so vorstellen, dass sie in einem „Gefühls-Ferrari“ sitzen, den sie aber nicht steuern können.

Sind Borderliner „Grenzüberschreiter“?

W.: Das Thema Grenzen spielt bei Menschen mit dieser Erkrankung eine wichtige Rolle, jedoch weniger hinsichtlich einer “Grenzüberschreitung” im Sinne von Provokation und fehlender Anpassungsbereitschaft. Vielmehr haben Borderline-Patient:innen große Schwierigkeiten damit, die eigenen Grenzen wahrzunehmen, zu kommunizieren und zu verteidigen. Deswegen werden ihre Grenzen sehr viel häufiger von anderen überschritten, als bei einem “gesunden” Menschen. Dies resultiert in vielen Fällen aus frühkindlichen Lernerfahrungen der Betroffenen, in denen die Grenzen durch primäre Bindungspersonen nicht anerkannt und geachtet wurden.

F.: Borderline-Patienten fühlen und denken in Schwarz-Weiß. Es gibt kaum „Grauzonen“. Stellt man sich die Bereiche des menschlichen Erlebens und Verhaltens auf einem Kontinuum mit zwei extremen Polen vor, dann bewegen sich diese Menschen mehr oder weniger rund um die extremen Pole, nehmen diese auch stark abgegrenzt wahr. Die “goldene Mitte” beziehungsweise der fließende Übergang – die Grautöne zwischen Schwarz und Weiß! – scheint für sie nicht existent.

Traumata in Kindheit und Jugend sollen eine große Rolle spielen. Gibt es auch weitere mögliche Ursachen?

W.: Wir sprechen hier von einem bio-sozialen Entstehungsmodell. Eine Borderline-Persönlichkeitsstörung entsteht nur bei Zusammenwirken der entsprechenden genetischen Disposition und einem von Invalidierung (Entwertung), Vernachlässigung oder auch Missbrauch geprägten sozialen Umfeld während der kindlichen, besonders der frühkindlichen Entwicklung. Zahlreiche Studien belegen den Zusammenhang zwischen (bindungs-)traumatischen Kindheitserfahrungen und der Entwicklung der Störung.

Welche Behandlungsoptionen gibt es?

F.: Für die Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung stehen spezielle, in ihrer Wirksamkeit belegte psychotherapeutische Behandlungsverfahren zur Verfügung. Am stärksten verbreitet ist die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach Marsha Linehan. Sie integriert ein breites Spektrum therapeutischer Methodik. Anerkannte psychotherapeutische Verfahren sind die Schematherapie nach Young, die Übertragungsfokussierte Therapie nach Kernberg und die psychoanalytisch ausgerichtete Mentalisierungsbasierte Therapie nach Batemane und Fonagy, um nur einige zu nennen. Die pharmakologische Behandlung erfolgt symptomorientiert, unter anderem mit antidepressiv, stimmungsstabilisierend oder schlafanstoßend wirkenden Präparaten.

W.: Um einen nachhaltigen Therapieeffekt zu erreichen, sind in vielen Fällen auch soziotherapeutische Interventionen erforderlich. Das kann die Unterstützung bei der Schaffung einer sicheren Wohnumgebung sein, die Initiierung beruflich-rehabilitativer Maßnahmen oder die Etablierung tagesstrukturierender Elemente.

Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)

Der Hauptfokus bei der Behandlung von Borderline-Patient:innen liegt auf der psychotherapeutischen Behandlung nach der DBT, die auf folgenden Grundannahmen basiert:

  1. Borderline-Patient:innen geben sich wirklich Mühe. Das heißt, sie versuchen, das Beste aus ihren gegenwärtigen Situationen zu machen.
  2. Borderline-Patient:innen wollen sich verändern.
  3. Borderline-Patient:innen müssen sich stärker anstrengen und härter arbeiten, um sich zu verändern.
  4. Borderline-Patient:innen haben ihrer Schwierigkeiten nicht selbst verursacht, müssen sie aber selbst lösen.
  5. Das Leben suizidaler Borderline-Patient:innen ist so, wie es gegenwärtig ist, unerträglich.
  6. Borderline-Patient:innen müssen neues Verhalten in allen relevanten Lebensbereichen erlernen.
  7. Sie können in der Therapie nicht versagen.
  8. Therapeuten, die mit Borderline-Patient:innen arbeiten, brauchen Unterstützung.

In der Gruppe erarbeiten sich die Patient:innen neue, funktionale Strategien und Fertigkeiten (Skills), die kurzfristig helfen, ohne langfristig zu schaden. Das Skills-Training umfasst die Module Achtsamkeit, Stresstoleranz, Emotionsregulation, zwischenmenschliche „Skills“ und Selbstwert.

In der Einzeltherapie wird zunächst psychoedukativ gearbeitet und mit den Betroffenen ein Entstehungsmodell ihrer Erkrankung (Fallkonzept) erarbeitet, das dem ganzen Team vorgestellt wird, damit alle gemeinsam die Patient:in auf dem “neuen Weg” unterstützen können. Gleichzeitig wird die Betroffen:e durch die Miteinbeziehung bei der Erarbeitung und Vorstellung des Fallkonzepts Experte für die eigene Erkrankung.

Entsprechend der DBT-Hierarchie rücken Suizidalität und therapieschädigendes Verhalten, wenn immer sie auftreten, in den Fokus der Einzeltherapie. So kann suizidales oder therapieschädigendes Verhalten verringert werden während gleichzeitig „Überlebensfertigkeiten“ aufgebaut und geübt werden.

Im Verlauf der Therapie geht es zunehmend um das Akzeptieren und Verändern von emotionalem Leid und um die Akzeptanz und Lösung der Probleme der Lebensführung.

 

Viele Borderline-Patient:innen können ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen, fallen durchs gesellschaftliche Raster. Wie definiert die Medizin unter diesen Prämissen „Behandlungserfolg“?

W.: Erst einmal ist es ganz wichtig sich klar zu machen, dass die Prognose der Borderline-Persönlichkeitsstörung viel besser ist als früher angenommen. Erstes Ziel in der Therapie ist es jedoch nicht, diese Menschen “arbeitsfähig” zu bekommen. Gemäß der DBT-Hierarchie geht es zunächst darum, dass die Patient:innen gefährliches suizidales Verhalten, dann weiteres selbstschädigendes Verhalten aufgeben. Im nächsten Schritt können sie auf Basis einer verbesserten Emotionsregulation ein neues, funktionales Verhalten lernen, um sich dann doch wieder beispielsweise einer Ausbildung nähern zu können

Wie kann man das Umfeld der Betroffenen stärken?

F.: Hier sollte man unterscheiden, auf welches Umfeld man abzielt. Sind die krankmachenden, teils traumatisierenden Erfahrungen in der Herkunftsfamilie Hauptursache für die Krankheitsentstehung, dann wäre es kontraproduktiv: Versuche, eben dieses Umfeld mit “ins Boot” zu holen, würden eher zur Wiederholung bekannter Muster führen, geprägt von Unzuverlässigkeit, Schuldzuweisungen und Enttäuschungen. Das destabilisiert die Betroffenen dann möglicherweise noch mehr. Hier sollte man die Patient:innen eher dabei unterstützen, ein neues soziales Umfeld aufzubauen, das korrigierende Beziehungserfahrungen zulässt.

W.: Gibt es im Umfeld der Patient:innen dagegen stützende Bindungspersonen, dann hat es sich als zielführend erwiesen, diese durch Angehörigengespräche in die Therapie mit einzubeziehen. Auch Psychoedukation ist hier sinnvoll, damit diese Personen mehr Verständnis für die Entstehung und Symptomatik der Erkrankung sowie im Umgang mit ihr entwickeln.

Drei Wünsche an die gute Fee …

F.: Da hätten wir zusammengefasst nur den Einen: dass jedem Menschen ein guter Start ins Leben und ein Aufwachsen in einem wohlwollenden und wertschätzenden Umfeld geschenkt wird.

W.: Unter dieser Voraussetzung würde diese Erkrankung kaum entstehen. Somit ergäbe sich die Notwendigkeit weiterer Wünsche nicht.

Vielen Dank, Dr. Wächter und Dr. Freund!

Bildnachweis: Innenhof Tagesklinik HAUS 26 am medbo Bezirksklinikum Regensburg (Frank Hübler)

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