Zumindest hat Burnout in der Gegenwart schon einen quasi-offiziellen Status, so dass er zu einer durch die Krankenkassen anerkannten Störung wird: Die ICD-10-GM klassifiziert ihn im Kapitel XXI „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen“ unter der Nummer Z73 „Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten mit der Lebensbewältigung“. Dort rangiert er mit physischen und psychischen Erschöpfungszuständen aller Art.
Für den medizinischen Laien klingt das nach einem noch laufenden Versuch, einem Phänomen, das gar nicht so leicht fassbar zu sein scheint, ein Etikett zu geben: Die Tatsache, dass Individuen mit (zu) vielen Pflichten, Zwängen, Anforderungen und Taktungen seelisch in die Knie gehen. Übrigens: Es gibt auch das Phänomen des „Boreout“, also des Ausbrennens durch Unterforderung!
Sein Job war die Sicherung der fundamentalen Lebensvoraussetzungen für sich und seine Sippe: Nahrung, Wärme, Schutz. Die Belastung, hier zu versagen, kannte der Chromagnon-Mensch bestimmt. Unser ältester Vorfahr hätte allen Grund gehabt, angesichts der Aufgabe und der endlosen Abfolge von Gefahrsituationen sprichwörtlich die Nerven zu verlieren. Dokumentiert ist dazu natürlich nichts. Aber offensichtlich hat es die Menschheit bislang geschafft, und zwar mit einem evolutionären Erfolgsmodell: Stress.
Bei Gefahr oder in Situationen, die höchster Konzentration bedürfen, bezeichnet Stress einen Cocktail an körperlichen und mentalen Prozessen, die uns vorübergehend stärker, schneller, schmerzunempfindlicher, damit belastbarer und effizienter machen. Wir können in Stresssituationen quasi über uns hinauswachsen. Für den Moment ist dies extrem nützlich.
Ist das Mammut aber erlegt, so ist Pause angesagt. Nach Anspannung muss Entspannung kommen. Ein einfaches Rezept. Denn auf Dauer ist unser Organismus Stress körperlich und mental nicht gewachsen, wie ein Motor, der überhitzen kann, wenn die maximale Drehzahl zu lang ausgereizt wird. Allerdings ist der „point of no return“ individuell unterschiedlich: Stichworte sind hier die psychologisch-psychotherapeutischen Begriffe der Vulnerabilität und Resilienz, also der jeweiligen besonderen Anfälligkeit oder der besonderen Widerstandskraft der menschlichen Seele bei Stress.
Aber ist der archetypische Stress beim Überlebenskampf dem Stress in modernen Lebenswelten artverwandt? Und kann aus beiden ein Burnout resultieren? Oder geht es auch ganz anders?
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde unter dem Begriff der „Neurasthenie“ („asthenes“ bedeutet im Griechischen „schwach“, „neuron“ ist der „Nerv“) erstmals ein Set an Symptomen beschrieben, die an den modernen Burnout erinnern. Tiefe Erschöpfung, schnelle Ermüdung, geringe Belastbarkeit des Organismus und des Geistes etwa. Aber auch Kopfschmerzen, Gereiztheit, alle möglichen Arten von „Verstimmung“ und am Ende eigentlich alle Verhaltensweisen und Befindlichkeiten, die sich die damalige Medizin körperlich-organisch nicht erklären konnte.
Medizin mit einem erhobenen moralischen Zeigefinger obendrein, denn die Neurasthenie griff schon früher bestehende Tendenzen auf, ungebührliches Verhalten somatisch zu erklären. Junge Frauen, die ständig der Ohnmacht nahe sind, die zu (wenig) sittsame Ehefrau, die Schwermütige, der Hypochonder: Nicht nur die Literatur kennt seit mindestens dem 18. Jahrhundert diese und andere neurasthenische Archetypen.
Neurasthenie wurde zum medizinischen Trend. Allerdings ist klar festzustellen, dass sie eben nicht als psychische Erkrankung bewertet wurde, sondern als nervöse oder mentale Symptome körperlicher Defizite. Und entsprechend somatisch wurde sie behandelt: Mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.
Vor allem die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten nutzten die Diagnose „Neurasthenie“ gerne, um sich in den mondänen Kurbädern der Jahrhundertwende ausgiebig zu erholen. Dort versuchten sie, vor allem nach der Lehre des schottischen Naturwissenschaftlers und Arztes John Brown, einen gesunden mittleren Erregungszustand ihrer Nerven wiederherzustellen. Mittel der Wahl war bei überreizten Nerven die Sedierung, bei „Unterreizung“ die Stimulierung des Patienten.
Brown ordnete im Grunde alle Krankheitszustände entlang eines Kontinuums von „Zuviel Reiz“ bis „Zu wenig Reiz“ ein. Eine Manie war somit eindeutig ein „Zuviel an Leidenschaften“, die nach Brown im schlimmsten Fall in einem Krampfanfall oder einem Gehirnschlag münden kann. Sein medizinischer Behandlungsbaukasten sah eine angepasste Diät ebenso vor wie Abführmittel, Aderlass oder sogar Opiate. Aber den Ursachen der „Reiz-Entgleisung“ gingen Brown und die Neurastheniker kaum auf den Grund. Die Frage, ob etwa das Tagesgeschäft im Job stresst, kam nicht auf.
Heute spielt die Neurasthenie kaum noch eine Rolle, obwohl sie immer noch eine eigene Kategorie im modernen ICD-10-Katalog ist. Diagnosen wie Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Ängste oder eben der modernere Burnout haben sie weitgehend abgelöst.
Der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud (1856-1939) – Begründer der Psychoanalyse – beschäftigte sich intensiv mit der Neurasthenie und kam schnell zu der Überzeugung, dass sie ein Sammelbecken für alles Mögliche sei und damit wissenschaftlich schwer zu fassen. Aber geprägt hat sie ihn zweifellos. Der neurasthenische Blick und der Freuds galt vor allem den Patientinnen. Frauen seien weniger belastbar, anfälliger für nervliche Überreizung. Und waren sie nicht still, fügsam und bescheiden, so war mit Sicherheit eine Degeneration des „Gemüts“ schuld. Hysterie, Frigidität, Schwermut. Freud schaute genauer hin und prägte einen neuen Begriff: die Neurose, die er als etwas leichtere seelische Störung begriff, verursacht nicht durch eine körperliche Erkrankung, sondern durch einen inneren Konflikt.
(Die Psychose ist die große Schwester der Neurose: Sie beschreibt die schwere seelische Störung.) Gemäß Freud wird menschliches Verhalten durch unterbewusste – meist sexuelle – Fantasien angeregt, das sozialen Regeln widerspricht. Die menschliche Seele gerät darüber in einen Konflikt zwischen Wollen und Nicht-Dürfen – Stress entsteht.
Den modernen „Burnout“ verbindet man zuallererst mit Stress in der Arbeitswelt. Übrigens: Der Begriff kommt ursprünglich aus der Literatur. Der amerikanische Autor Graham Greene beschrieb 1960 in seiner Geschichte „A Burnt-Out Case“ den Fall eines klassischen Aussteigers aus dem Beruf des Architekten.
Erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde der Burnout vom amerikanischen Psychologen Herbert Freudenberger. 1974 erschien sein Beitrag „Staff Burn-Out“, wo er emotionale Erschöpfungszustände von freiwilligen Helfern in der New Yorker Drogenhilfe beschreibt.
In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts bekommt die Forschung rund um Burnout an Fahrt. Vor allem die Zusammenhänge zwischen Stress am Arbeitsplatz, individuellen und exogenen Faktoren stehen im Fokus.
Seit der Jahrtausendwende wird die Diagnose Burnout auch statistisch erfasst und ausgewertet. Laut der „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland – DEGS1“ aus dem Jahre 2012 besteht eine Lebenszeit-Prävalenz für Burnout von 4,2 %. Das heißt, dass etwa 4,2 % aller Erwachsenen in Deutschland einmal im Leben an einem Burnout leiden.
In den letzten Jahren wird der Begriff „Burnout“ verstärkt auch auf andere Lebensbereiche ausgedehnt: Burnout in der Familienarbeit oder – Freudenberger lässt grüßen – im Ehrenamt sind nur zwei davon.