Doppelter Espresso

Neurodoping, Gehirndoping, Neuro-Enhancement – kann man das Gehirn mit Medikamenten wirklich zu mehr Leistung pushen?

2015 veröffentlichte die Krankenkasse DAK eine Studie: Drei Millionen Beschäftigte in Deutschland schlucken demnach Aufputschmittel, die Dunkelziffer sei weitaus höher. Jeder Zehnte sei dem Thema grundsätzlich aufgeschlossen. Aber warum nur? Und was hat Kaffee damit zu tun? – Prof. Dr. Norbert Wodarz, Chefarzt des Zentrums für Suchtmedizin am Bezirksklinikum Regensburg, gibt Auskunft.

Prof. Wodarz, Gehirndoping, Neurodoping – meinen diese Begriffe eigentlich dasselbe?

W.: Sie sind im wörtlichen Sinn nicht ganz deckungsgleich, werden aber häufig synonym gebraucht. Aber sie stehen für den grundsätzlichen Versuch, die eigene kognitive Leistungsfähigkeit oder das psychische Wohlbefinden zu verbessern. Da fallen Meditationstechniken und Gehirnjogging genauso darunter wie Lebensmittel mit aufputschender Wirkung, Tee und Kaffee zum Beispiel. Dabei gehört Koffein laut der World Health Organization zu den Suchtmitteln.

Jeder Kaffee- und Teetrinker betreibt also im Grunde sozial akzeptiertes Gehirndoping. Das klingt recht unspektakulär …

W.: Es ist auch erstmal recht simpel. Dass man das Gedächtnis trainieren kann, weiß jeder, der zur Schule gegangen ist und pauken musste. Es ist auch keine neue Erkenntnis, dass wir Stoffe von außen zuführen müssen. Wir essen, trinken und atmen – auch damit unser Gehirn funktioniert. Umstritten wird es, wenn wir die Banane wegschmeißen und dafür Pillen einwerfen, um die grauen Zellen anzukurbeln. Die Bandbreite ist groß, von apothekenpflichtigen Mitteln wie Koffeintabletten über den absichtlichen Missbrauch von verschreibungspflichtigen Medikamenten bis hin zum Konsum illegaler Drogen.

Medikamentenmissbrauch, um das Gehirn zu befeuern: Kann das denn funktionieren?

W.: Man nennt das pharmakologisches Neurodoping. Die Konsumenten erhoffen sich mehr psychisches Wohlbefinden, bessere Hirnfunktionen wie Wachheit oder Konzentration. Oder sie möchten Ängste und Nervosität abbauen. Ohne echte psychische Krankheit missbrauchen sie Psychopharmaka. Beim Neurodoping können diese Substanzen zwar durchaus Effekte haben. Aber sie wirken oft nicht so, wie sich das der Doper wahrscheinlich wünscht. Ein Beispiel: Dope ich mit Antidepressiva, so wird sich meine Stimmung nicht substantiell aufhellen. Logisch: ich bin ja nicht depressiv. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie Prozac, das vor einigen Jahren in den USA wie Bonbons verkauft wurde, steigern bei Gesunden vielleicht ein wenig den Antrieb, wirken aber eher stimmungsnivellierend. Die möglichen Nebenwirkungen sind auch nicht ohne: Sexuelle Funktionsstörungen etwa. Wirklich depressiv kranken Menschen hingegen kann man mit diesen Medikamenten häufig sehr gut helfen.

Missbrauch von Antidepressiva – gibt es weitere Mittel und Substanzen?

W.: Es gibt eine ganze Reihe neben den geschilderten Antidepressiva. Etwa Methylphenidate wie das Ritalin, das zur Behandlung eines ADHS erfolgreich eingesetzt werden kann. Bei Gesunden wirkt es eher leicht aufputschend, allerdings mit der Gefahr eines anschließenden Tiefs beim Nachlassen der Wirkung und der Gefahr, sich schwere Herzrhythmusstörungen einzuhandeln. Wachmacher werden immer wieder bei zu wenig Schlaf missbraucht, weil man glaubt, damit leistungsfähiger zu sein. Dabei zeigen Studien, dass bei Gesunden ein banaler doppelter Espresso dieselbe Wirkung bei weniger Nebenwirkungen hat. In der Hoffnung auf eine bessere Gedächtnisleistung werden vor Prüfungen auch mal Antidementiva genommen – stibitzt aus Omas Pillendöschen. Doch diese wirken halt nur bei dementiellen Syndromen. Betablocker gegen Bluthochdruck hemmen die Ausschüttung von Adrenalin und können die Übererregung des sympathischen Nervensystems bei ausgeprägtem Lampenfieber oder Prüfungsangst senken. Das kann in der Situation tatsächlich hilfreich sein, aber nur wenn man die Vorbereitung für die Situation erledigt hat, also geübt beziehungsweise gelernt hat. Die letzte Steigerungsstufe wären die illegalen stimulierenden Substanzen wie die Amphetamine und Crystal Meth. Sie erhöhen erstmal ordentlich die Leistungsfähigkeit, hemmen Appetit und Müdigkeitsgefühl. Aber es folgt auch ein extremes Tief. Ganz davon abgesehen, dass man sehr schnell immer höhere Dosen braucht und mit jedem Konsum näher an eine Abhängigkeit kommt.

Begrenzter Erfolg, tiefer Absturz: Kommt es bei der Wirksamkeit auch darauf an, von welchem „Misere“-Level man startet …

W.: Ja, durchaus. Wenn ich als gesunder Mensch schon auf einem 100 %-Leistungslevel bin, dann hat unsere Physiologie Mechanismen eingebaut, die ein weiteres „Hochjagen“ verhindern. Mit starken Stimulantien wie den illegalen Stoffen lassen sich in gewisser Weise kurze Zeit die letzten Reserven rauskitzeln. Aber der Absturz nach dem High ist tiefer als der Ausgangslevel und der Akku später noch „leerer“ als vor der Einnahme. Oder anders: Habe ich gut geschlafen und bin hellwach, machen mich Tabletten nicht noch wacher. Guter Schlaf wäre das eigentlich bessere Doping!

Wie aussagekräftig sind solche Studien wie die der DAK aus Ihrer Sicht?

W.: Man muss genau hinschauen. In den Medien wurden die Zahlen der Studie stark verkürzt. Drei Millionen Beschäftigte: Das klingt natürlich sehr hoch. Aber in der Schlagzeile wird nicht differenziert zwischen Konsumenten, die irgendwann in ihrem Leben ein einziges Mal eine Pille geschluckt haben, und solchen, die dies regelmäßig oder über einen längeren Zeitraum tun. Es gibt auch klinische Studien, denen zufolge etwa 1,9 % der Erwerbstätigen innerhalb von zwölf Monaten regelmäßig, das heißt mindestens zweimal monatlich, Psychopharmaka ohne zugrundeliegende psychische Erkrankung nehmen.

Gibt es bestimmte Erwerbstätigengruppen, die besonders auffallen?

W.: In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck, dass vor allem die Leistungsträger auf den Chefposten fragwürdige Mittel einnehmen, um leistungsfähiger und konzentrierter zu sein. Dabei sind es häufig Menschen – vor allem Männer – mit niedrigerem Schulabschluss in einfacheren Tätigkeiten. Nicht wenige von ihnen haben schon vorher einen Bezug zu Substanzen aller Art, ob verboten oder nicht. Es wird hier auch ein gewisser „Hangover“-Effekt vermutet, eine Art Wechselspiel: Um am Wochenende fit zu sein, braucht der Mann etwas, was ihn pusht. Nach dem durchfeierten Wochenende kommt der Katzenjammer und man braucht wieder etwas, um wachzubleiben und die Woche am Fließband durchzustehen.

Frauen betreiben kein Neurodoping?

W.: Doch. Aber nach den verfügbaren Daten nicht im selben Maß wie die Männer. Frauen nehmen Mittel auch eher zur Stimmungsaufhellung und emotionalen Stabilisierung, weniger zur Leistungssteigerung oder zur besseren Konzentrationsfähigkeit.

Was ist mit anderen, etwa Studenten oder Leistungssportlern?

W.: Die meisten Substanzen mit Wirkung auf das Gehirn und das Zentrale Nervensystem stehen im Profi-Leistungssport auf dem Index. Sie sind auch gut nachweisbar. Gedopt wird da mit anderen Mitteln und mit anderen Zielen. Bei den Alltagssportlern wird eigenartigerweise durchaus psychopharmakologisch gedopt, etwa wenn ein Marathon ansteht. Obwohl es hier eigentlich um nichts als die Ehre geht. Bei den Studenten scheint es eine eher kleinere Gruppe zu geben, die sich auch mal vor Prüfungen „dopt“.

Wettkampf bedeutet ja nichts anderes als die Ermittlung einer Rangreihung unter gleichen Bedingungen…

W.: Vergleichbarkeit ist ein gutes Stichwort. Ein sportliches Höhentraining in den Anden führt zu einer ähnlich hohen Bildung von roten Blutkörperchen bei einem Leistungssportler wie das Medikament Erythropoetin. Das Medikament ist verboten – Höhentraining nicht. Was, wenn ein Sportler sich das teure Höhentraining über Monate vor dem Wettkampf nicht leisten kann, das Medikament aber schon? Sind das gleiche Bedingungen mit unterschiedlichen Mitteln? Oder im Fall der Studenten: Ich presse mir mittels Psychopharmaka mehr Lernstoff ins Kurzzeitgedächtnis (was übrigens nicht funktioniert), spucke das Wissen bei der Prüfung aus und danach vergesse ich alles gleich wieder. Tolle Noten – aber etwas gelernt? Doping bei Gesunden ist also immer auch ein sozialethisches Thema.

Ein spannendes Thema. Vielen Dank für die Informationen, Prof. Wodarz!