Lebenslauf, Biographie und Biographiearbeit

In der psychiatrischen Arbeit sind die "inneren" Daten eines Menschen von großer Bedeutung

Man kennt ihn im Zusammenhang bei Bewerbungen um einen Arbeitsplatz: Der „Lebenslauf“. Er zählt die objektivierbaren Ereignisse eines Lebens auf, die äußeren Lebensdaten. Die inneren Lebensdaten - also diejenigen Ereignisse und Umstände, die den Menschen geprägt haben, kurz: seine Biographie - sind für die psychiatrische Arbeit mindestens ebenso wichtig.

Die Biographie ist eine Geschichte, ein Produkt der sozialen Herkunft, des Geschlechts, der Ethnizität und der historischen Zeit. Sie gibt Auskunft, wie ein Mensch die verschiedenen Lebensereignisse wahrgenommen hat, wie er sie bewertet und in seinem Leben einordnet. Damit ist sie ein wichtiges Reservoir an Hinweisen, Impulsen und Ansatzpunkten bei der Diagnosestellung und therapeutischen Begleitung seelischer Störungen.

Eine „Normalbiographie“ mit Schule, Beruf, Familie und Alter war bislang durch Schicht, Geschlecht und Religion geprägt. Soziale Sanktionen sorgten für die Einhaltung des „Normalen“. So wäre es etwa in den 1960er Jahren kaum möglich gewesen, dass eine Ehefrau ihren Mann und ihre Familie verlassen hätte. Heute sind die Menschen gefordert, ihren Lebens(ver-)lauf selbst zu gestalten. Männliche und weibliche Biografien haben sich angeglichen. Berufswechsel, Partnerwechsel, Arbeitslosigkeit, Bereitschaft zu Mobilität bis hin zur mangelnden Absicherung im Alter verändern unsere heutigen Biografien. Die Menschen sind verstärkt gefordert, mit Brüchen und Übergängen in ihrer Biografie umzugehen. Dies ist häufig mit Krisen verbunden.

„Das Leben kann nur rückblickend verstanden, es muss aber vorausschauend gelebt werden“ (Sören Kierkegaard).

In der psychiatrischen Anamnese werden in aller Regel zwar krisenhafte Erlebnisse abgefragt. Aber es gibt im Leben eines Menschen viele biographische Fakten, die im Lauf der Zeit vergessen oder nicht als markantes Ereignis eingeordnet wurden. Durch gezielte biographische Arbeit können diese Erinnerungen „angezapft“ und therapeutisch nutzbar gemacht werden.

Biographische Methoden

Die biographischen Methoden sollen sinnlich sein, das heißt sie sollen Kopf, Herz und Hand ansprechen. Auch sollen sie zielgruppenorientiert eingesetzt werden. Nicht jede Methode funktioniert in jeder Gruppe. Die biographischen Methoden sollen strukturiert sein: das Vorgehen ist Schritt für Schritt vorgegeben. Die Teilnehmergruppe weiß, warum und mit welchem Ziel eine Methode eingesetzt wird. Die Methode selbst ist prozess- und ergebnisorientiert. Die Aufgabenstellung ist konkret und enthält keine abstrakten Fragestellungen. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben soll eher humor- und lustvoll sein denn belastend.

Grundsätzlich kann jeder Mensch erzählen, vorausgesetzt, er hat Zutrauen zu sich selbst und vertraut der Gruppe. Auch können konkrete Gegenstände, (persönliche) Fotografien, Alltagsgegenstände oder Musik das Erzählen erleichtern. Auch der Besuch von Orten kann sinnvoll sein.

Bekannt sind Erzähl-Cafés oder Schreibwerkstätten. In der praktischen Methodenauswahl sind unter Berücksichtigung der genannten Vorgaben keine Grenzen gesetzt: Es kann eine Collage oder ein Lebensstrahl, ein Puzzle, ein Labyrinth, ein Lebensbaum gestaltet werden. Ein Lebensfaden kann durch rote Wolle, die Jahreszeiten durch Bilder dargestellt werden, einem Märchen, einem Schlager kann zugehört werden und vieles mehr. Dies alles kann zum Erzählen anregen.

Die zentrale Methode des biographischen Arbeitens ist aber das „biographische Gespräch“, das von Achtsamkeit und Wertschätzung geprägt sein soll. Die Patient:innen sollen sich erinnern und erzählen.

Erinnern und Erzählen

Im Erinnern und Erzählen wird Vergangenes vergegenwärtigt, das ganz nahe werden kann, das alte, auch schmerzliche Gefühle aufwühlen kann. Es geht zu Herzen, auch bei den Zuhörenden. Es sind nicht nur die großen Ereignisse eines Lebens, auch vermeintliche Kleinigkeiten können bedeutungsvoll sein.

Erinnern bedeutet auch das Neu-Entdecken von Vergangenem: Man kann eine neue Perspektive und eine neue Einstellung entwickeln. Im Erzählen erlebt man Ressourcen und Potenziale, die man vergessen hatte. Erinnert werden auch schmerzliche Erlebnisse, die möglicherweise bis in die Gegenwart hinein noch nicht be- und verarbeitet sind. Es können nicht-eingetretene Lebensereignisse wie die nie gemachte Reise betrauert werden, und im Erzählen von Lebensgeschichten kann ein Ende gefunden, eine Geschichte abgeschlossen werden.

Beim Erinnern kommen Gefühl (Herz) und Verstand (Kopf) zusammen. Der Mensch hat nicht nur ein emotionales und kognitives Gedächtnis, sondern auch ein Körpergedächtnis. So kann ein Kleidungsstück mit Entbehrung und Not, aber auch mit Glanz und Freude verbunden sein und zu entsprechend unterschiedlichen Reaktionen führen. Erinnern kann auch die eigene Identität fördern, denn die Lebensgeschichte ist an die jeweilige Erzähler:in gebunden, mit eigenen Wurzeln und eigener Entwicklung. Das Erinnern und Erzählen ist gemeinschaftsfördernd, denn das Erzählen einer Person löst ergänzende Erzählungen vieler anderer Personen aus. Und ganz besonders bedeutsam sind die Erfahrungen älterer Menschen, die mit ihrem Lebenswissen Wertvolles weitergeben.

Biographiearbeit in der Psychiatrie

Biographiearbeit kann in der Arbeit mit psychisch kranken Menschen oder Menschen mit geistiger Behinderung wichtige Akzente zur Spurensuche und Stärkung des Identitätsgefühls setzen. Es gibt auch Ansätze biographischen Arbeitens mit Menschen mit Migrationshintergrund. Auch junge Menschen können bereits Partner biographischen Arbeitens sein.

Biographiearbeit ist dabei keine therapeutische Methode, sondern eine Form der Lebensbegleitung. Im Unterschied zu einer Therapie geht es bei der Biographiearbeit nicht darum, vorab definierte innerpsychische oder zwischenmenschliche Probleme zu lösen. Biografiearbeit nutzt vor allem die Selbst-Erkenntnis und das Selbst-Verständnis der Menschen, eröffnet ihnen neue Wege der Selbst-Thematisierung, stärkt deren Selbst-Bewusstsein und Selbst-Wertgefühl und fördert die Entfaltung bislang vernachlässigter oder zurückgestellter Interessen.

Biographiearbeit mit depressiven Menschen im Stationsalltag

Die teilnehmenden Patient:innen einer gerontopsychiatrischen Station waren zwischen 65 und 81 Jahre alt, hatten alle eine mittelschwere bis schwere depressive Erkrankung, waren ängstlich, vorsichtig und misstrauisch. Jede Aufforderung war eine Anforderung oder sogar Überforderung. Die Gedanken waren eingeengt, das Selbstwertgefühl und die Selbstachtung fehlten, und die Hauptaussagen der Teilnehmenden waren „Ich kann nicht“, „Mir geht es schlecht“ oder gar nur ein Schulterhochziehen. Die Teilnehmer:innen waren aufgefordert, sich anhand der Themenbereiche an Begebenheiten aus ihrer Kindheit, ihrer Jugend oder des jungen Erwachsenenalters zu erinnern und zu erzählen.

Mit dem Spiel „Räume des Lebens“ waren etwa die Themen Wohnen, (Lieblings-)Essen, Spielen, Schule oder Urlaub in bildlicher Darstellung vorgegeben. Die Teilnehmenden haben sich mit Freude erinnert, mit Interesse zugehört und eigene Einfälle ergänzt. Sie haben sich im Wiedererkennen der gemeinsamen Erfahrungen gegenseitig bestärkt. Entsprechend dem Verlauf ihrer Erkrankung waren sie freudig interessiert und mitteilsam oder zurückhaltend und beobachtend.

Zwei Teilnehmer:innen konnten konkret mitteilen, was sie viele Jahre ihres Lebens begleitete und ihnen wohltat. So hatte ein Teilnehmer Zeit seines Lebens Hasen, die er versorgte, und er konnte anschaulich schildern, wie er gerne das weiche Fell berührte. So entstand der Gedanke, sich wieder Stallhasen anzuschaffen. Eine krankheitsbedingt wenig mitteilsame Teilnehmerin erzählte von „ihrem Sofa“, das ihr immer wichtig war - zum Lesen, zum Musik hören, zum Fernsehen oder zum Schlafen. Das Sofa wurde Basis weiterer Kommunikation.

Überraschend war das Nicht-Erinnern eines Teilnehmers. Im Anschluss an das biografische Arbeiten verdichteten sich Hinweise auf eine schwer belastende Lebenssituation, die weit über das hinausging, was bislang als krankheitsauslösendes Ereignis angesehen wurde.

 

Autoren: Prof. Dr. Stephan Schiekofer, Chefarzt des Zentrums für Altersmedizin der medbo Regensburg, Dr. Elke Pelz, Assistenzärztin an der medbo Universitätsklinik für Psychiatrie & Psychotherapie in Regensburg und Referentin für biographisches Arbeiten

Bildquelle: Korn via Fotolia